Niemand. Und wenn sie kommen? Dann stecken wir sie in ein Lager und behaupten, sie seien überhaupt nicht eingereist.
Es ist Sommer, und ich bin in Wales, dem Land mit dem roten Drachen auf der Flagge und als Nationalpflanze einer Stange Porree. Wenn es ein Motto auf dem Wappen der walisischen Hauptstadt Cardiff gäbe, dann stünde dort direkt über dem Lauch: „Wir sind britisch, aber nicht englisch“. Der einzige Punkt, in dem die Waliser*innen mit ihren englischen Nachbarn übereinstimmen ist Migration. Vor Migration haben sie Angst, noch mehr Angst als vor dem Brexit. Woran liegt das?
„Wir sind voll,“ erklärt mir die Inhaberin eines Ladens, der Einrichtungen für Puppenhäuser verkauft. In Wales leben rund 3 Millionen Menschen auf 20.779 Quadratkilometern. Reichen 6.649 Quadratmeter pro Person nicht aus?
Natürlich haben die Briten die Angst nicht allein gepachtet. Überall in der EU und also auch in Deutschland sprechen Bürger*innen über ihre Angst, spezifischer über ihre Angst vor, nicht Angst um die Menschen, die in Schlauchbooten das Mittelmeer überqueren und in diesem Sommer in Rekordzahlen ertrinken. Vor kurzem schrieb ich meine Kolumne in der taz über die Seenotrettungsboote, die in den Häfen festgehalten, und über die Seenotretter*innen, die als Schlepper angeklagt werden. Die Kommentarspalte war lehrreich. Leser*innen erklärten mir aufgeregt, warum das alles seine Richtigkeit habe: „Die Rettung ist mit einkalkuliert. Wenn dies nicht mehr geschieht, werden sich weniger Menschen diesem Risiko aussetzen.“ Abschreckung durch Ertrinken lassen? Echt jetzt?
Das Gefühl der Geborgenheit
Dahinter steckt nicht der Gedanke, dass die Welt ein besserer Ort wäre, wenn nur mehr Schwarze, arme Menschen sterben, sondern – richtig geraten – Angst. Und in diesem Fall tatsächlich Angst um: um „Rentner und Hartzler“, um „Mia, Mireille, Melissa, Sara“. Und mit Angst ist das so eine Sache. Es macht keinen Sinn zu sagen: Es macht keinen Sinn Angst zu haben, hab also einfach keine. Denn Angst ist nicht das Ergebnis von Analysen und Abwägungen, sondern von Affekten.
Trotzdem existiert Angst nicht in einem informationsfreien Raum.
Spätestens seit 2015 lesen wir in allen Zeitungen und hören und sehen auf allen Kanälen, wie gefährlich die Situation, sprich: die Menschen wären, die versuchen zu uns zu kommen. Verbrechen werden ethnisiert, umso mehr wenn es sich um sexualisierte Verbrechen handelt. Deshalb ist es erst einmal eine Überraschung, dass Deutschland so sicher ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr. (Quelle: BMI)
Entgegen allen Informationen steigt Kriminalität eben nicht an, sondern geht zurück, sogar Gewaltverbrechen, sogar durch Migrant*innen verübte Gewaltverbrechen - wie Innenminister Horst Seehofer (CSU) im Mai im Bundestag bestätigen musste, auch wenn er sich dabei anhörte, als hätte er einen Frosch verschluckt. Im Juni behauptete Beatrix von Storch (AfD) in der BBC das läge nur daran, dass weniger Fahrräder gestohlen würden. Morde und Vergewaltigungen würden mehr und mehr. Die Statistiken belegen das nicht.
Nun erwartet man bei Frau Storch interessengeleitete Berichterstattung, aber was ist mit den Medien, der sprichwörtlichen vierten Macht im Staat? Auch die, pardon wir, spielen das Spiel mit und dem Alarmieren und Skandalisieren, weil man mit ALARM einfach mehr Aufmerksamkeit bekommt als mit Abwägung. Und an diesem Punkt alarmiere ich selber, denn zum Glück berichten inzwischen immer mehr Medien immer häufiger darüber, dass Deutschland eben nicht untergeht und unsere schlimmsten Probleme zur Zeit überhaupt nicht Migration sind.
Nun hilft es keiner und keinem Betroffenen zu sagen: Statistisch gesehen, gehen die Verbrechen zurück. Aber es sollte uns allen ein größeres Gefühl von Geborgenheit geben: Wir leben historisch und geographisch an einem der sichersten Orte der Welt. Herzlichen Glückwunsch.
Geflüchtete Menschen kurbeln die Wirtschaft an
Was ist dann mit anderen Bedrohungen? Bedrohen Geflüchtete nicht unsere Wirtschaft? Auch hier kommt etwa das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung zu überraschenden Erkenntnissen: Sie rechnen mit einem höheren Wirtschaftswachstum, weil die Ausgaben für Geflüchtete „wie ein Konjunkturprogramm“ wirken. Sprich: die Ausgaben für Unterbringung kommen der Bauwirtschaft zugute, Ausgaben für Verpflegung dem Einzelhandel und so weiter, so dass die „Krise“ langfristig Wachstum und Arbeitsplätze schafft. (Quelle: DIW)
Darüber hinaus müssen Menschen auch nur so lange verpflegt werden, wie sie hier nicht arbeiten dürfen. Danach tragen sie aktiv zum Bruttosozialprodukt bei. Außerdem sind sie die einzige realistische Abhilfe für den Fachkräftemangel in Deutschland. Weit davon entfernt zu voll zu sein, brauchen wir nämlich händeringend Menschen, und zwar junge Menschen. Stichwort: demographischer Wandel. Migration und Flucht bereichern den Staat mehr als sie ihn kosten. Letztes Jahr rund 19,4 Milliarden Euro mehr - der höchste Überschuss seit fast 30 Jahren. Im Vergleich dazu sind Babys deutlich teurer als Geflüchtete – es sein denn, die Geflüchteten sind Babys - weil sie erst einmal mindestens 18 Jahre betreut und ausgebildet werden müssen. (Und trotzdem lesen wir keine hysterischen Artikel, dass zu viele Babys geboren und dem Sozialstaat auf der Tasche liegen würden.)
Verantwortung für alle
Das ist nicht der Grund, warum man Menschen nicht im Mittelmeer ertrinken oder in Kriegsgebieten sterben lassen sollte. Aber es ist ein guter Grund für eine realistischere Gefahreneinschätzung.
Was jedoch stimmt, ist, dass Geflüchtete und Niedrigverdienende zur Zeit gegeneinander ausgespielt werden. Nach dem Motto: Du willst nicht unterhalb des Mindestlohns arbeiten - kein Problem, dann macht es halt jemand, der verzweifelter ist als du. Da stellt sich natürlich die Frage, ob das die Schuld der Verdammten dieser Erde ist oder die derjenigen, die daraus Profit schlagen. Wie wäre es also statt mehr Abschreckung einen realistischen Mindestlohn für alle zu fordern? Und zwar international oder zumindest in allen Ländern, mit denen wir Wirtschaftsbeziehungen unterhalten. Das könnte zwar zur Folge haben, dass wir dann weniger Arbeitsmigration hätten, aber dafür könnten wir ja ein paar Geflüchtete mehr aufnehmen: win-win.
Was wir brauchen ist eine Rhetorik und Theorie der Solidarität und der Verantwortung. Und zwar für alle.